2009-02-26

Entsprechende Untersuchungen

Auf den Spuren der Staatssicherheit der Ex-DDR war ich gestern unterwegs, zum größten Teil der Zeit im Stasimuseum Berlin (im Haus 1 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, MfS, an der Normannenstraße),


zum kleineren im Informations- und Dokumentationszentrum Stasi (im ehemaligen Innenministerium an der Mauerstraße).

Das Foyer des Stasimuseum strahlt unverändert den spröden Charme der 70er Jahre der DDR aus. Als absolut stimmig empfand ich den Geruch kalten Schweißes, der mir in der Pförtnerloge, die gleichzeitig Museumsshop ist, entgegenschlug.



Von diesem riesigen Gebäudekomplex aus wurden die 91000 festangestellten und 171000 informellen Mitarbeiter der Stasi gelenkt. Flächendeckend arbeiteten sie in Bezirksverwaltungen, Kreisdienststellen und Objektdienststellen, verteilt über die gesamte DDR.



Über dreißig Jahre lang, von 1957 bis 1989, befehligte Erich Mielke den Unterdrückungsapparat der SED, der sich selbst "Schild und Schwert der Partei" nannte. Im diesem Haus, in der ersten Etage, befanden sich die Arbeitsräume Mielkes, die weitgehend im Originalzustand erhalten geblieben sind. Heute sind in dem Gebäude Zeugnisse des konspirativen Wirkens der "Tschekisten", wie sich die MfS-Mitarbeiter ebenfalls nannten, ausgestellt.

Werkstätten zum Fälschen von Pässen und Poststempeln,


Knopflochkameras zum unauffälligen Observieren von Zielpersonen,


in funktionsfähigen Gießkannen eingebaute Fotoapparate, um Friedhofsbesucher zu überwachen,


sowie die berühmt-berüchtigten Geruchsproben in Einweckgläsern


führten letztlich mitunter zu Festnahmen, die dann in Arrestzellen wie dieser endeten. Einige konstruktive Details hierzu: nach der Nachtruhe wurde das Pritschenbrett hochgeklappt und von außen in dieser Stellung arretiert. Dafür konnte eine Schemel-Tischlein-Kombination in die Zelle gedreht werden. Mit einer Tür wurde sowohl der Zugang zur Zelle selber wie auch zu einem kleinen Sanitärbereich kontrolliert.


All diese Kontrollen hat den realen Niedergang der DDR-Wirtschaft nicht aufhalten können, wahrscheinlich sogar durch die Summen, die zur Unterhaltung dieser Überwachungsinfrastruktur erforderlich waren, beschleunigt.


Den eher leisen Schlussakkord setzte Günter Schabowksi 1989-11-09 mit seiner Verkündigung der sofortigen Erlaubnis eines Grenzübertritts für DDR-Bürger (hier eine Kopie der zugrunde liegenden Pressemitteilung).


Ein letztes kleines Zeugnis der großen Themen, mit denen sich Mielke befasste ("Ich muss alles wissen!"), liefert dieses Schriftstück. Es lohnt sich, aus diesem Schreiben des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden, immerhin eines Generalmajor, den ersten Absatz zu zitieren:
Entsprechend der Weisung des Genossen Ministers am 23. 10. 1984, im Ferienheim des MfS "Am Lugstein" zu überprüfen, warum die im Ferienheim installierten WC-Sitze nach dem Hochklappen nicht in dieser Stellung verbleiben, sondern zurückfallen, habe ich entsprechende Untersuchungen veranlaßt."

2009-02-25

Berliner Abendimpressionen

Ich versuche gerade, in einem Ost-Asien-Imbiss an der Reinickendorfer Straße meine Fen-Tze-Suppe zu genießen. Am Nachbartisch sitzen vier Männer, alle um die 55, die versuchen, dem vietnamischen Ladenbesitzer die Feinheiten der vietnamesichen Sprache beizubringen, sich ansonsten über die Misere ihrer Lebens austauschen, nonstop rauchen, nur unterbrochen von kräftigen Zügen an ihren Bierflaschen und Schnapsfläschchen.

Vielleicht hat Mißfelder doch nicht unrecht ...

Deutsch stirbt aus!

Während ich noch im Januar frohgemut einen Germanisten mit seiner These, dass die deutsche Sprache nicht aussterbe, zitieren konnte, bin ich jetzt um eine Erkenntnis reicher.

Der Reihe nach: In der Ausstellungshalle, die dem Deutschen Historischen Museum (DHM) angegliedert ist (hier ein Blick aus dem unterirdischen Durchgang zurück auf das Zeughaus, in dem das DHM beheimatet ist)



wird "die Sprache Deutsch" ausgestellt.



Neben Themenfelder wie "Sprechen und Spracherwerb", "Dichtkunst und Sprachkunst" und "Lebendige Sprache" nimmt die Sprachgeschichte einen breiten Raum ein. Mit der Abrogans-Handschrift, einem um 790 n.u.Z. entstandenen Lateinisch-althochdeutschem Wörterbuch, ist das in der Fachwelt als ältestes Buch in deutscher Sprache bekannte Dokument ausgestellt.



Im DHM selber wird die deutsche Geschichte zwischen 100 v.u.Z. bis 1994 in Bildern und Zeugnissen gezeigt. (Hier ein reitender Kämpfer in vollem Harnisch von ca. 1480.)



Mit welcher unmenschlichen Logik während des Dritten Reichs "Rassen"zugehörigkeiten bestimmt wurden, dokumentiert diese Tafel zu den Rassengesetzen, die 1935 auf dem Nürnberger Reichsparteitag verkündet wurden.



Zurück zur Überschrift: Allein die Geschichte lehrt uns, dass nichts ewig währt. Analog zu Tierarten, die im Durchschnitt acht Millionen Jahre überleben, bevor sie aussterben oder sich zu einer neuen Spezies evolvieren, so entwickeln sich auch aus einer Ausgangs- oder Protosprache über Dialekte neue Sprachen, die über die Zeit hinweg entweder verdrängt werden oder sich durch Evolution bis zur Unverständlichkeit ihrer Ursprünge verändern. Der Linguist Tore Janson meint dazu in seinem Buch "Eine kurze Geschichte der Sprachen", dass auch die deutsche Sprache dereinst sterben wird, wenn die letzten Menschen aufhören, sich in dieser Sprache auszutauschen, die sie als "Deutsch" bezeichnen - und dass die Geschichte lehrt, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen wird.

2009-02-23

Museum für Naturkunde

Das Berliner Museum für Naturkunde sieht sich sowohl als Registratur für die belebte und unbelebte Natur sowie als Zentrum der Erforschung der Vielfalt der Natur und ihrer Entwicklungsgeschichte. Nur ein kleiner Teil der über 30 Millionen Objekte, die in den vergangenen Jahrzehnten gesammelt wurden, können der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dazu gehören so spektakuläre Stücke wie das größte montierte Saurierskelett dieser Erde, ein Brachiosaurus brancai,



sowie das Original des Berliner Exemplars des Archaeopteryx, das als das bekannteste Fossil dieser Erde gilt.



Einen etwas besseren Eindruck von diesem etwa hühnergroßen Urvogel vermittelt diese Rekonstruktion seines Skeletts.



Eine Sonderausstellung ist Charles Darwin, seinem Leben und seinen Forschungen gewidmet. In einem der Säle wurde die Atmosphäre auf der HMS Beagle, dem Forschungsschiff, mit dem er die Erde in den Jahren 1831 bis 1836 umrundete, nachempfunden. Holzkisten mit z. T. von ihm selbst gesammelten Originalexponaten, Fässer mit Videoinstallationen (und die immer noch angenehm nach Sherry dufteten, wenn man sich mit dem Kopf in sie hineinwagte), Auszüge aus seinem Reisetagebuch, auf Stoff gedruckt und gebunden, und das Halbdunkel im Inneren eines Schiffsrumpfs tragen zu einer authentischen Stimmung bei.



In den "alten" Sammlungen des Museums sind vergrößerte Modelle kleiner Plagegeister (wie hier ein Stubenfliege in 50-facher Vergrößerung)



oder Präparationstechniken (hier an einem Eichhörnchen und einem Vogelbalg) zu sehen.



Eine Reise durch die Geschichte unseres Weltalls erlaubt eine Video-Projektionsscheibe, die über einer Liegeinsel montiert ist. Man kann auf dieser Aufnahme vielleicht erahnen, wie hoch der Anteil der Familien mit Kindern gestern in diesem Museum war. Leider habe ich unter den vielen hunderten der Besucher keine einzige kopftuchtragende Muslima mit ihren Kindern ausmachen können ...



Auf die Gefahr, mich zu wiederholen: ein weiteres der guten Museen in Deutschland, für die wir dankbar sein sollten.

2009-02-22

Schwerer Schaden dem Ansehen

Aus einer aktuellen Meldung auf http://heute.de:
Altkanzler Schröder ist im Iran mit Präsident Mahmud Ahmadinedschad zusammengetroffen. Kurz zuvor hatte er dessen Zweifel am millionenfachen Mord der Nazis an den Juden verurteilt. "Der Holocaust ist eine historische Tatsache", sagte der Altkanzler.

Der Zentralrat der Juden kritisierte Schröder wegen seines geplanten Treffens mit Ahmadinedschad scharf. Schröder füge dem Ansehen der Bundesregierung und der Bundesrepublik schweren Schaden zu, sagte Generalsekretär Stephan Kramer der "Neuen Presse" aus Hannover. Der frühere SPD-Vorsitzende unterstütze mit seinem Treffen das Regime im Iran und den Diktator.

Was, bitteschön, ist denn die Alternative zu Gesprächen und Verhandlungen mit auch politisch unliebsamen Zeitgenossen? Ein Totschweigen? Ein Klima der Einschüchterung und des Hasses? Solch eine Strategie mag vielleicht der israelischen Regierung im Umgang mit der Bevölkerung des Gaza-Streifens opportun erscheinen. Ist die Eskalation der Sprachlosigkeit, die in einer unverhältnismäßigen Bombardierung einer verteidigungslosen Bevölkerung mündet, einer Bombardierung, die "alle Anzeichen von Kriegsverbrechen trägt" (so Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu), die Alternative?

Meiner Meinung nach fügt der Zentralrat der Juden durch solche Aufrufe zur Sprachlosigkeit dem Ansehen des organisierten Judentum in Deutschland schweren Schaden zu.

2009-02-20

Selbstbestimmte Weiterbildung

Vor Jahren habe ich mit dem Gedanken geliebäugelt, mein seinerzeitiges Arbeitskonto-Guthaben für ein Sabbatical, konkret für ein Semester an der Uni, zu verwenden. Jetzt, nach meiner Verrentung, komme ich diesem Wunsche ansatzweise nach.

Heute fand zum ersten Mal eine europaweite Tagung statt, die sich mit verschiedenen Aspekten von Wissen und Einstellungen zur Evolution und Wissenschaft beschäftigt. Tagungsort war das Max Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund.

Es hat mir Freude bereitet, mich hier einen Tag unter klugen Menschen aufhalten zu dürfen,



denen daran gelegen ist, "in den Dschungel der Mythen und den Forst der Religionen Lichtungen des Wissens zu schlagen", um einen der Referenten, Prof. Dr. Werner Patzelt, zu zitieren.

Fakten zur Evolutionsbiologie wurden präsentiert, hier eine Gegenüberstellung der Genome (also des gesamten Erbguts) einzelner Arten.



Insbesondere von Christenfreunden wird häufig die doch auf "höhere Eingebung" hin nur mögliche große Übereinstimmung zwischen der Abfolge der Schöpfungsentwicklung laut Genesis und den Erkenntnissen der modernen Evolutionsbiologie verwiesen. Auch dieses Märchen wird entzaubert.



Es verwundert nicht, dass die Religiosität einer Bevölkerung grob mit einer Akzeptanz der wissenschaftlichen Erkenntnis, hier der Evolutionstheorie, korreliert.



(Die obigen drei Abbildungen stammen aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas Junker.)

Erfrischend war der Vortragsstil von Prof. Dr. Gerhard Vollmer: handgeschriebene Folien auf einem Overhead-Projektor, ein Blick zurück in die Prä-PowerPoint-Periode.



Für mich persönlich war wahrscheinlich der Hinweis auf "The Counter-Creationism Handbook" (auch im Web zu finden) mit die wichtigste Information des Tages.

So ein selbstgestaltetes Curriculum macht nicht sofort süchtig, aber darf gerne fortgesetzt werden ...

2009-02-15

Darwins gefährliches Erbe

Unter diesem Titel (komplett: Darwins gefährliches Erbe – Die weltanschaulichen Konsequenzen der Evolutionstheorie — Debatte aus Anlass des 200. Geburtstags des Naturforschers) wurde das Thema des Vorabends im Rahmen einer Podiumsdiskussion einen Tag später fortgeführt. Allerdings unter anderen Vorzeichen: Fand der Darwin-Festakt in einem Tempel des Wissens, der Nationalbibliothek, statt, wurde gestern Abend im "Haus am Dom", einer Einrichtung des (katholischen) Bistums Limburg in Frankfurt, diskutiert. Fand der Darwin-Festakt vor einem relativ homogenen, an der Aufklärung interessierten Publikum statt, waren gestern Abend die Weltbilder des versammelten Pulikums, soweit dies von Beifallsbekundungen geschlossen werden darf, wesentlich breiter gefächert. Fand der Darwin-Festakt mit Referenten statt, die den Religionen kritisch gegenüberstanden, saßen gestern Abend mit dem Moderator, Günter Kruck, und einem der Diskutanten, Ernst Peter Fischer, zwei religionsfreundliche Vertreter auf dem Podium. Immerhin - und das überrascht bei Veranstaltungen dieser Art auf "feindlichem" Territorium - überwogen mit Sabine Paul, Thomas Junker und Michael Schmidt-Salomon die Verfechter einer naturalistischen Weltsicht.

In dieser Aufnahme mit - von links - Junker, Paul, Kruck, Schmidt-Salomon und Fischer ist die Dynamik und die mitunter emotionsgeladene Spannung der Diskussion nachvollziehbar ...


Die Veranstaltung, obwohl insgesamt kurzweilig, litt meiner Ansicht nach unter einigen Schwächen: Der Moderator, Günter Kruck und Studienleiter im Haus am Dom, war gleichzeitig Partei. Er mäßigte und lenkte (lat. moderare) die Diskussion kaum und konnte der Dominanz von Fischer und (selten) Schmidt-Salomon wenig entgegen setzen. Die Diskussionsteilnehmer wurden eingangs von ihm nicht vorgestellt; auf eine entsprechende Nachfrage aus dem Publikum hin meinte Fischer nur lapidar: "Googeln Sie unter meinem Namen, dann werden Sie schon Informationen über mich finden." Diese - ich drücke mich mal höflich aus - Unbedachtheit führte leider nicht zur Nachfrage, wie man, bitteschön, während der Diskussion damit etwas über den Referenten ergoogeln sollte. Schade um die verpasste Chance, denn eine Recherche (nachträglich) wies ihn als Autor u. a. des Buches "Die andere Bildung - Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte" aus, welches sich sogar in meiner Bibliothek befindet. So hat er sich um die Gelegenheit gebracht, zumindest von mir Vorab-Sympathiepunkte zu erhalten.

Sabine Paul und Thomas Junker stellten wie schon am Vorabend einige Thesen aus ihrem Buch "Der Darwin Code - Die Evolution erklärt unser Leben" vor. Sie beschränkten sich auf die Themenfelder "Helden und Terroristen" und "Kunst und Religion". Richtig lebhaft wurde die Diskussion erst nach ungefähr anderthalb Stunden, als von Fischer eine Koexistenz von Religion und Naturwissenschaft eingefordert wurde und ein ätherisches, eher pantheistisches Gottesbild beschrieben wurde: "Ein persönlicher Gott ist natürlich Quatsch!".



Spätestens zu diesem Zeitpunkt war Michael Schmidt-Salomon, Geschäftsführer der Giordano-Bruno-Stiftung, in seinem Element und wies die geneigten Christenfreunde im Publikum darauf hin, dass sie oder zumindest ihr Gottesverständnis als Basis ihrer Religion nicht von einem der Atheisten, sondern von dem religionsnahen Vertreter auf dem Podium beleidigt worden seien. Eine gemeinsame Basis für eine natürlich-naturalistische Weltsicht und für eine übernatürlich-religiöse Weltsicht sei schwer zu finden.

Die Schein-Kraft mancher Argumente liess Schmidt-Salomon mitunter ermattet in seinen Sessel sinken.



Kurzum, eine zum Ende hin kurzweiliger werdende Diskussionsrunde, die anschließend noch im kleinen Kreis mit zwei Zuhörerinnen in einem nahe gelegenen Weinlokal resümmiert wurde ...

2009-02-14

Darwin-Festakt

In diesen Tagen wird des 200. Geburtstags eines bedeutenden Naturforschers gedacht. Charles Darwin wurde am 12. Februar 1809 geboren. Fünfzig Jahre später veröffentlichte er seine (r)evolutionäre Schrift "On the Origin of Species", in der erstmals die natürliche Entstehung der Arten als Folge von Zufall und Notwendigkeit beschrieben wurde.

In der Nationalbibliothek in Frankfurt fand gestern aus diesem Anlass ein Darwin-Festakt statt. Neben weiteren lokalen Mitstreitern der Säkularen Humanisten habe ich mich dummerweise im Vorfeld für eine technische Unterstützung angeboten. Die Konsequenz: ich habe mich im Regieraum über dem Vortragssaal



um das Einspielen der Videos kümmern dürfen. Hier der dazu nötige technische Ablaufplan mit meinen handschriftlichen Ergänzungen der Triggerworte und -signale zum jeweiligen Videostart.



Unter Punkt 14 ist die Dankesrede Darwins aufgeführt. Hier vertieft er sich noch einmal vor dem Auftritt in seinen Text ...



Zuvor hatten namhafte Biologen sowohl den historischen Wert der Darwinschen Erkenntnisse sowie aktuelle Forschungsergebnisse der Evolutionsbiologie vorgestellt (hier Thomas Junker und Sabine Paul während ihres Vortrags).



Insgesamt habe ich eine gelungene Veranstaltung erlebt (auch wenn am Ende der Sekt ausging), zu deren Gesamtbild ich ein winziges Mosaiksteinchen beitragen durfte.

2009-02-02

Inhumanitas

Ich habe gerade ein Buch zu Ende gelesen, das mich emotional sehr bewegt hat: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, eine Auswahl seiner Tagebücher 1933-1945.

Die Todesstatistiken des Dritten Reiches und des von ihm losgetretenen Zweiten Weltkriegs sind bekannt. Die Ermordung von sechs Millionen Juden, durch Rassenwahn motiviert und durch Todesfabriken industrialisiert, ist ein nicht wieder gutzumachendes Verbrechen. Diese großen Zahlen berühren aber in uns weniger als die Schilderung einzelner Schicksale. So wie die Tagebücher der Anne Frank sollten auch die Aufzeichnungen des Victor Klemperer zur Schullektüre in Deutschland werden.

Geboren 1881, gestorben 1960, arbeitete er als Professor für Roministik von 1920 bis zu seiner zwangsweisen Emeritierung 1935 an der Technischen Hochschule Dresden. In beeindruckenden und bedrückenden Worten schildert er die zunehmenden Einschränkungen, denen die jüdischen Mitbürger während des Nazi-Regimes ausgesetzt waren. Verbote über Verbote sollten ihnen das Überleben zunehmend erschweren und jeden Willen zum Widerstand gegen den Abtransport in die Konzentrationslager "im Osten" oder gegen den Suizid brechen.

Mit der Lektüre ist mir zumindest deutlich geworden, dass Bemerkungen der überlebenden Nicht-Juden, sie "hätten doch nichts davon gewusst", nicht nur reine Schutzbehauptungen zu sein brauchen. Klemperer schildert, wie die Einschränkungen, die die jüdischen Mitbürger erleiden mussten, häufig nur intern, über die lokalen Gemeindevorstände bekannt gemacht wurden. Für Außenstehende muss dies wie eine schleichende Unsichtbarwerdung der Juden erschienen sein. Obwohl auch Klemperers Leben bedroht war, rettete ihn seine Ehe mit einer "Arierin" vor der Deportation in den sicheren Tod.

Bleiben wir wachsam, dass solch ein Rückfall in eine Welt der Grausamkeiten, der Unbildung, der Unmenschlichkeit, also auf latein: inhumanitas, von uns nicht mehr zugelassen wird.